Natur & Spiritualität Die Liederoase
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Der GRÜNE MANN oder die 'Blattmaske'

 

 

 

 

'Grüner Mann' bzw. 'Grüne Frau' ist ein Name, der den Blattmasken 1939 von Lady Raglan gegeben wurde, die sie wiederentdeckt und ihre Gedanken dazu publiziert hatte. Er ist insofern treffend, als aus all diesen Gesichter und Köpfen Blätter, Ranken und Früchte spriessen, die sie als ein Symbol der Naturkraft erscheinen lassen. Meist sind es Akanthusblätter, manchmal auch Eichen- oder Weinblätter. Die Gesichter selber sind nur selten 'grün', der Name bezieht sich vielmehr auf die Vegetation, die sie personalisieren. 

 

Das hat in England eine gewisse Tradition: der Grüne Ritter in der Artussage, aber auch solche Figuren wie Jack in the Green dürften da Pate gestanden haben.

 

Vielfach hat man versucht, diese Blattgesichter auf keltische Traditionen zurückzuführen. Doch alles, was wir bei den Kelten finden, sind Köpfe mit Mistelzweigen oder Hirschgeweihen. Die typischen Akanthusblätter dagegen tauchen im Hellenismus auf, der schon vor der Zeitenwende westliche und östliche Kultur verschmolz und diese Intuition hatte, Menschen mit dieser Zierpflanze zu verbinden.

 

 

 

Ein Mann mit Akanthusbart und -haaren, Mosaik aus dem Museum in Istanbul, um 500 v. Chr.

 

Doch dass dieses Gesicht Eingang in die christliche Buchmalerei und Kirche fand, ist erstaunlich, denn es atmet ganz offensichtlich den Geist heidnischer Antike. Der Hauptgrund war wohl ein magischer: diese furchteinflössenden Gesichter sollten Böses abschrecken und Unheil fernhalten und somit das Heilige schützen. So wurde schon das Medusenhaupt in der Antike gebraucht.

 

 

 Codex Egberti, 10. Jh. - s. unten und oben

 

Bodenmosaik mit dem Haupt der Medusa, Palencia, Spanien, 2. Jh.

 

 

Auch wenn es ähnliche Figuren in anderen Kulturen gibt: der Grüne Mann ist eine Gestalt, die sich im mittelalterlichen Mitteleuropa entfaltet hat, vorwiegend in Groß-Britannien, Deutschland und Frankreich. Er hat also etwas zu tun mit unserer Entwicklung hier in Europa. Seine Botschaft war zunächst an die Unheilsmächte gerichtet. Doch in späterer Zeit veränderte sich der Ausdruck merklich. Man kann aus den Gesichtern vieles lesen, vielleicht auch dies: das Leben muss wachsen und sich entfalten dürfen. Man darf das Natürliche nicht ständig beschneiden, unterdrücken, domestizieren, beherrschen. Weder darf der Mensch seine Leiblichkeit kontinuierlich unterdrücken oder gar misshandeln, noch darf er das mit der Natur um ihn herum tun. Er kann in die Natur eingreifen, aber wir wissen heute, dass gerade wir Europäer das viel zu viel getan haben: in christlicher Zeit - und in der aufgeklärten Zeit

 

 

Kapitell im Foyer des Lübecker Rathauses

 

 

Die 'Grünen Männer' dominieren selten. Sie sind meist unter den Heiligen oder irgendwo, wo unser Blick nicht gleich hinfällt. Dass sie meist im Verborgenen sind, mag seinen Sinn haben. Vielleicht wollen sie gar nicht ganz aufgedeckt und entschlüsselt werden. Normalerweise sieht man über sie hinweg. Doch wenn man einmal auf sie aufmerksam wird, lassen sie einen so leicht nicht mehr los. Sie scheinen uns mit ihren Blicken geradezu zu verfolgen.

 

 

Grüner Mann im Dom von Bamberg

 

 

 

Auch wenn der Grüne Mann keine Gottheit ist, nicht einmal festgelegt auf eine bestimmte Farbe, ein Geschlecht oder eine Figur, sondern ein kunstvolles Spiel mit Elementen aus dem menschlichen und dem pflanzlichen Bereich, so erinnert er doch an Bacchus und Dionysos, an Pan und Silvanus, auch an das Haupt der Medusa, die, weil sie alle zu Stein erstarren ließ, zur Abwehr von Feinden diente.

 

 

Dionysos, der Gott der Ekstase, des Weines und der Fruchtbarkeit,

Fragment im Side Museum in Antalya

 

 

Die Medusa von Didyma. Athene verwandelte die schöne Medusa in ein menschliches Ungeheuer mit Schlangehaaren, die sich Poseidons Liebeswerben nicht entziehen konnte. Noch ihr von Perseus abgeschlagenes Haupt war so mächtig, dass es alle erstarren ließ. die es anschauten.

 

 

 

Die Masken der alten Kirchen wirken oft furchteinflössend und sind apotropäisch (magisch) zu verstehen: sie schrecken böse Mächte ab und schützen das Heilige. 

 

Stiftskirche Herrenberg

 

Die Hoch-Zeit der 'Grünen Männer und Frauen' war in der Gotik, wo sie uns überall in Europa begegnen. Vielleicht haben sie ihre Hoch-Zeit auch heute, wo aufgrund der menschlichen Zivilisation selbst die großen Wälder und die wilde Natur in nie gekanntem Maße dezimiert und zurückgedrängt werden. Hier zeigen sie uns ihr freundliches, abe auch ihr erschrecktes Gesicht: wir Menschen dürfen nicht alles, was wir können.

 

 

Der Bamberger Reiter, Anfang 13. Jh. Er stellt wohl Stephan von Ungarn dar, der der Sage nach - noch als Heide - geradewegs in den christlichen Dom galoppiert sein soll. Später christianisierte er Ungarn.

 

Wie der Drache zum Erzengel Michael gehört, wie Esau zu seinem Zwillingsbruder Jakob und Enkidu zu Gilgamesch gehört, so gehört der Grüne Mann zur Geschichte der christlichen Heiligen. Er ist ihr natürlicher Counterpart. Mal ist er ihr Feind, mal ihr Gegenstück, mal ist er der gesunde Ausgleich, mal ihre natürliche Basis. Mal ist er Dämon, mal ist er Wächter, mal ist er Mahner, mal auch Schelm.

 

 

 

 

 

 

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© Jürgen Wagner